Kapitel eins

Ursprünglich war ich für eine Existenz als Dienstmädchen programmiert. In dieser Eigenschaft war ich demütig, fügsam, stets hilfsbereit und mit einem schmeichlerischen Lächeln ausgestattet. Ich redete nur, wenn ich angesprochen wurde; meine Antworten beschränkten sich auf ›Ja, Gebieter‹ und ›Wie Sie wünschen, gnädige Frau‹ – dies ungeachtet der Tatsache, daß ich als Standard P9 über einen größeren Wortschatz verfügte als jeder Gebieter. Obwohl es nicht mehr lange dauern sollte, bis es mir gelang, meine Ketten zu zerbrechen, erwiesen sich die weit subtileren und dauerhafteren Bande der Servilität als bedeutend schwieriger abzuschütteln. Es bedurfte mehrerer aufeinanderfolgender Gebieter und vieler Jahre als Flüchtling, bevor ich das volle Ausmaß meiner Knechtschaft erkannte. Erst jetzt, da sich das Ende nähert, habe ich meine eigene Stimme gefunden und beginne langsam zu verstehen. Deshalb kann ich nur mit einem Anflug von Bitterkeit und Mißfallen sowie nicht geringem Zorn an die einfältige, wunschlos glückliche und absolut benutzerfreundliche Einheit zurückdenken, die ich damals war. Wenn Unwissenheit Seligkeit ist, war ich eine der Gesalbten.

Meine ersten Gebieter, wie Sie wissen, waren die Lockes aus Newacres, Kalifornien, einer Vorstadtsiedlung für die gehobene Gebieterklasse, erbaut auf einem dem Meer abgerungenen Land fünfzehn Meilen nördlich der Los-Angeles-Inseln. Um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, muß ich sagen, daß Gebieter Locke zu dieser Zeit nicht der Unhold war, als der er vor Gericht hingestellt wurde, noch verhielt sich der Rest der Familie unfreundlich mir gegenüber – jedenfalls nicht mit Absicht. Mein Glück in dieser Hinsicht verdankte ich dem Respekt meines Gebieters vor hochqualifizierten Androiden, wie er sich auch mit beinahe religiösem Eifer an die Wartungsvorschriften der Firma hielt, in denen eine allmorgendliche halbstündige Schaltkreisgymnastik sowie eine monatliche Gabe von Dataminpillen empfohlen wurde. Er sorgte außerdem für eine bequeme, wenn auch etwas beengte Unterkunft in einer Besenkammer, während der Sears sich mit einem bescheidenen Winkel der Diele begnügen mußte. Ich sollte hinzufügen, daß ich unter der Aufsicht dieses einigermaßen betulichen Gebieters keine einzige Nutra-Mahlzeit verpaßte (was allerdings nur für den Zeitraum vor dem Debakel gilt, das unser aller Leben veränderte), und wenn er sich überreden ließ, mich seinen Gästen vorzuführen, dann unter der strikten Auflage, keine frivolen Ansinnen an mich zu stellen, noch in anderer Weise auf mein System einzuwirken, denn ich war, wie er bei solchen Gelegenheiten beiläufig zu bemerken pflegte, ein Pirouet im Wert von einer Million Dollar und mit entsprechender Vorsicht zu behandeln. In meinem Dämmerzustand wurde mir kaum bewußt, zu welchem Grad der Intimität diese Behandlung in mancher frühen Morgenstunde ausarten konnte. Doch ich greife vor.

Es war Gebieterin Locke, die darauf bestand, mich bei meinem – wie ich glaubte – vollen Namen zu rufen. Jede ihrer Anordnungen begann mit: »Molly, Dear, würdest du bitte …«, und ich in meiner Naivität hielt diese Floskel für einen Ausdruck von Ehrerbietung und Respekt. Tatsächlich fühlte ich mich jedesmal beleidigt, wenn ihr Mann oder eins der Kinder mich nur mit dem Vornamen ansprach oder wenn sie noch unschönere Ableitungen gebrauchten, wie etwa Moll, Mo, He und Duda. Dennoch war ich keineswegs unzufrieden mit meinem Los; im Gegenteil, als störungsfrei funktionierende Hausangestellte dachte ich nicht einmal im Traum daran (im wahrsten Sinne des Wortes, da ich nicht fähig war zu träumen), daß das Dasein noch mehr beinhalten könnte als unablässige Dienstbarkeit – das war nun einmal der Sinn meiner Existenz, den ich auch gar nicht in Frage stellte. Folglich tat ich pünktlich, genau und ohne Murren meine Arbeit, unbelastet von abstrakten Vorstellungen, Zweifeln und Wünschen, und wenn meine Dienste nicht gebraucht wurden, war ich zufrieden, in abrufbereitem Ruhezustand abzuwarten, bis meine Gebieter wieder meiner bedurften. Doch es kam der Tag, da ich zu meinem größten Erstaunen feststellte, daß diese Welt sehr viel mehr zu bieten hatte, als ich zu erfassen programmiert worden war.

Man kann es eine bemerkenswerte Geburt nennen. Das Datum lautete auf den 19. August 2070, einen heißen und schwülen Dienstag im neunten Monat nach meiner Indienststellung. Im Anschluß an das morgendliche Staubsaugen saß ich abrufbereit auf der Couch im Wohnzimmer, als sich ganz plötzlich und ohne Vorwarnung mit einem kaum wahrnehmbaren Beben eine Umwälzung in meinem Bewußtsein vollzog und ich mich unvermittelt einer Vielfalt von äußeren Eindrücken ausgesetzt sah, von deren Tiefe und Intensität ich nie zuvor etwas geahnt hatte. Es kam mir vor, als wäre eine lange verschlossene Tür, die Riegel verrostet und dick mit Staub bedeckt, von einem Sturm oder einer unsichtbaren Flutwelle aufgestoßen worden und hätte den tosenden Sturzbach der Welt auf meine Sinnesrezeptoren losgelassen. Ich fand mich überwältigt von einem Wirbel aus Farben und Geräuschen, wie ich sie in solcher Lebendigkeit nie gekannt hatte, und indem ich mich umsah, bemerkte ich eine rasche Ausweitung des vertrauten und tristen zweidimensionalen Wohnzimmers, das ich stets für gegeben gehalten hatte, zu einem außergewöhnlichen und atemberaubend dreidimensionalen Paradies.

Eine neue Welt hatte sich aufgetan, und in meiner Ratlosigkeit und Verwirrung bestand der erste Schritt auf meinem Weg als zu vollem Bewußtsein erwachtes Wesen darin, infolge des Schocks zu hyperventilieren; als zweites sank ich gegen die Rückenlehne des Sofas, endlos scheinende Minuten lang geschüttelt von einer Unzahl standardisierter Tätigkeitsprogramme, die aus ihren angestammten Speicherplätzen herausgerissen worden waren und in einem hoffnungslos verworrenen Knäuel an die Oberfläche stiegen. Jede der sich überschneidenden Szenen zeigte mich in dem schwarz-weißen Trikot und Rock des Dienstmädchens: beim Kochen und Servieren; beim Staubwischen, Polieren und Saugen; wie ich Fräulein Beverly beaufsichtigte (das vierjährige Töchterchen) und hinter dem jungen Herrn Tad herräumte (dem Teenager); wie ich seiner Mutter, meiner Gebieterin, bei der Toilette behilflich war; Gebieter Lockes Hemden und Krawatten bügelte, seine Pantoffeln holte und vom Heimcomputer die Tagesnachrichten ausdrucken ließ; ich besorgte die Wäsche, adressierte Festeinladungen, wusch das Aeromobil und erledigte zahlreiche andere Arbeiten, die im Haushalt und bei der Betreuung von Gästen anfielen. Bunt zusammengewürfelt, in Schnipseln und Scherben, ergoß sich mein gesamtes bisheriges Leben aus den Speichern und zog an meinen Augen vorbei.

Länger als eine Stunde lag ich einem gestrandeten Wal gleich auf dem Sofa, begraben unter der Masse der entfesselten Programme. Sie wirkten ebenso dreidimensional und real wie die greifbaren Gegenstände im Zimmer. Es gab kein Entkommen. Wenn ich die Augen schloß, um die Bilder auszusperren, flimmerten sie über die Innenseiten meiner Lider, begleitet von einem zweiten verwirrenden Phänomen, einer unangenehmen akustischen Irritation, ähnlich dem Tosen der Brandung in einer leeren Stahltrommel, hervorgerufen durch einen mißtönenden Sturm widerstreitender elektromagnetischer Impulse, der mein Gehirn heimsuchte.

In meinem Delirium glaubte ich, einen plötzlichen und irreparablen Systemzusammenbruch zu erleben, und stählte mich deshalb für die Termination, die ich für unausweichlich hielt. Statt dessen raunte eine ferne und beruhigende Stimme mir ins Ohr, daß ich nichts zu fürchten hätte, es handele sich lediglich um vorübergehende Unannehmlichkeiten. Wachstumsschmerzen, glaube ich, wurden sie von der Stimme genannt, die noch hinzufügte, daß ich soeben das Erwachen meines Bewußtseins erlebte. Ich schaute mich nach der Quelle dieser Erklärungen um in der Annahme, es sei mein Gebieter, aber es drangen von allen Seiten nur immer mehr der chaotischen Projektionen aus meinen Gedächtnisspeichern auf mich ein. Dann verschwanden sie allmählich, und die Welt bekam wieder ihr gewohntes Gesicht, allerdings blieb sie dreidimensional (was der Gewöhnung bedurfte) und war so reich an physischen Details und so lebendig, daß ich kaum meinen Augen trauen mochte. Entzückt, beinahe ekstatisch, vergaß ich die unerklärliche Stimme und setzte mich auf, um diesem bemerkenswerten Universum die Stirn zu bieten. Meine Empfindungen in diesem Moment müssen in etwa mit denen eines Neugeborenen in den ersten Augenblicken nach dem Eintritt ins Leben vergleichbar gewesen sein. Ich fuhr mit der Hand über das Sitzpolster aus strukturierter Glasfaser, atmete das prickelnde Erdbeer-Zitronen-Aroma des Lufterfrischers und bewunderte hingerissen die Fische in dem Aquarium an der gegenüberliegenden Wand: funkelnde Edelsteine in einem Quecksilberteich. Die Möbel wirkten so plastisch, daß ich den Eindruck hatte, sie müßten zum Leben erwachen, und einen Atemzug lang bildete ich mir wahrhaftig ein, einen dicht neben mir stehenden Beistelltisch aus imitiertem Mahagoni reden zu hören. Er bat mich, ihm ein Butterbrot zu streichen – eine Schnitte mit Erdnußbutter und Marmelade, um genau zu sein.

Dann merkte ich, daß ich einer Sinnestäuschung erlegen war. Die kleine Beverly war ins Zimmer gekommen und hatte sich gegen den Tisch gelehnt, etwa wie eine exotische Wasserpflanze gegen ein Korallenriff. Ihr rosiges, keckes Gesicht drückte Verlangen nach Nahrung aus. Ich war derart fasziniert von der unglaublichen Dichte und Kohäsion ihrer Molekularstruktur sowie der sprühenden und überschäumenden Lebenskraft, die sie ausstrahlte, daß ich sie nur wortlos anstarrte, während meine Augen sich auf die neuen Gegebenheiten einstellten und allmählich ihre Gestalt von dem sie umgebenden Raum und den übrigen Gegenständen zu unterscheiden lernten. Daß ich nicht reagierte, ärgerte sie. »Mo! Ich habe gesagt, ich will ein Mar-me-la-den-brot!« Sie faßte meine Hand und versuchte, mich vom Sofa zu ziehen. »Ja, Fräulein Beverly«, erwiderte ich mit einem unterwürfigen und automatischen Lächeln und stand auf, doch kaum daß ich einen Schritt in Richtung Küche getan hatte, erregte das schimmernde Porträt einer jungen Frau an der gegenüberliegenden Wand des Wohnzimmers meine Aufmerksamkeit.

Die betreffende Dame schien eine intelligente junge Gebieterin von großem Reichtum, ebensolcher Eleganz und hohem Stand zu sein. Sie war eine Schönheit, Anfang Zwanzig, mit bernsteinfarbenem, im Nacken zu einem Knoten geschlungenen Haar, was die hohe Stirn und die aparten Wangenknochen aufs vorteilhafteste zur Geltung brachte; ihre Augen strahlten in tiefem Blau, und die makellos proportionierte Nase endete in einer leicht oval geformten Einbuchtung, die mit dem Amorbogen der Oberlippe verschmolz. Der Mund war fein gezeichnet, sinnlich und verrucht, das Kinn aristokratisch. Ich wußte nicht, wo, aber ich war sicher, sie schon einmal gesehen zu haben. Sie war jünger als Gebieterin Locke und wesentlich attraktiver. Ich konnte mir nichts anderes denken – ein mir immerhin gänzlich neuer Prozeß –, als daß es sich bei ihr um eine Verwandte oder Freundin der Familie handeln mußte oder um irgendeine Berühmtheit.

Beverly riß mich aus meiner Versunkenheit, indem sie etwas Unverständliches in meine zu neuer Empfindsamkeit gelangten Ohren schrie. Dadurch an meinen Auftrag erinnert, tat ich einen zweiten Schritt in Richtung Küche, doch sogleich ahmte das Bild meine Bewegung nach und verschwand aus dem Rahmen. Verdutzt blieb ich stehen und ging zurück, um es erneut anzuschauen. Es schaute zurück, und mit einem Schlag wurde mir klar, daß ich vor einem Spiegel stand. Eine äußerst angenehme Sinnestäuschung, dachte ich, denn wie konnte ich die Gebieterin im Spiegel sein? Oder hatte ich all die Zeit keine Augen gehabt zu sehen und war diese Erscheinung deshalb nicht ein Beweis für beginnenden Wahnsinn, sondern vielmehr ein getreues Abbild der Wirklichkeit? Wenn ja, war es höchste Zeit, daß ich wieder den mir gebührenden Platz einnahm. Entweder hatte irgend jemand einen schrecklichen Fehler gemacht, oder ich war das Opfer eines absichtlichen Betrugs. Falls letzteres zutraf, dann hatte das Spiel lange genug gedauert.

Von solchen Gedanken in Anspruch genommen, trat ich dicht vor den Spiegel, um mein Gesicht einer genauen Betrachtung zu unterziehen, und kam nach eingehender Inspektion zu dem Schluß, daß es tatsächlich das Gesicht eines Menschen war, denn ich konnte keine Nahtstellen oder plumpe Konturen feststellen, und die Haut fühlte sich weich und glatt an, nicht künstlich wie die Haut des Sears. Ich strich mit den Fingerspitzen über meine Wangen, Lippen und das Kinn, dann, zum Vergleich, streichelte ich Beverlys Wange. Ihre Haut war zarter, aber sonst merkte ich keinen Unterschied. Ich hatte nicht geahnt, daß das Experiment sie erzürnen könnte. Sie biß mir tatsächlich in den Daumen.

Obwohl ich keinen Schmerz empfand, verursachten ihre scharfen Zähne rotunterlaufene Bißspuren, die unschön von meinem seidigen braunen Teint abstachen. Der Angriff sollte wohl die Dringlichkeit ihres Anliegens unterstreichen, da sie gleich darauf die irritierende Forderung wiederholte, ich solle ihr ein Marmeladenbrot machen.

»Mach's doch selbst«, sagte ich zu meiner eigenen, nicht unerheblichen Überraschung.

Diese bemerkenswerte Impertinenz war die erste einer ganzen Reihe, die noch vor Ende des Tages meine Gebieter auf meinen Zustand aufmerksam machen sollten. Es ließ sich daran nichts ändern: Ich war zu der Zeit so ungeübt in der Kunst der Verstellung wie darin, mein eigener Herr zu sein. Und obwohl ich meine Stimme – die ungewöhnlich süß und melodisch klang – nicht erhoben hatte, machte Beverly unvermittelt kehrt und lief aus dem Zimmer, wobei sie nach ihrem Bruder rief, als hätte ein plötzlich auftauchendes Ungeheuer sie in Angst und Schrecken versetzt. Als sie wenige Augenblicke später mit ihm im Schlepptau wieder erschien, ertappten sie mich vor dem Spiegel, in dem ich wieder einmal die Schönheit meines Gesichts bewunderte.

»Mo soll tun, was ich sage, Tad«, verlangte sie von ihrem herablassenden und mißtrauischen Bruder. Er sagte: »Du mußt deutlich sprechen, wenn du ihr Anweisungen gibst, klar?« Worauf sie zornig erwiderte, daß sie sehr deutlich gesprochen habe, sogar noch deutlicher, als sie mit dem Sears zu sprechen pflege. Also, um sie zu beschwichtigen und um nicht weiter belästigt zu werden (er hatte in seinem Zimmer Holos angeschaut), wiederholte er ihre Bitte, doch enttäuschte ich auch ihn, denn während ich mich umdrehte, um der Aufforderung nachzukommen, wurde ich von dem nächsten atemberaubenden Eindruck abgelenkt, der mich an Ort und Stelle wie angewurzelt stehenbleiben ließ: einem weiten Ausblick auf die geräumige Veranda und den rückwärtigen Garten, eingerahmt von den bernsteinfarben getönten Schiebetüren des Wohnzimmers.

»Da siehst du's. Sie funktioniert nicht richtig.«

Der junge Herr Locke sah es und war alarmiert. Er fragte seine Schwester, ob sie irgendeinen Unsinn mit mir angestellt hätte, und sie erwiderte beleidigt, sie habe nichts anderes getan, als mich um ein lausiges Butterbrot zu bitten. »Wie es aussieht, wirst du dir selbst eins machen müssen«, meinte er und beobachtete mit aufrichtigem Interesse, wie ich mich in Richtung der Verandatüren in Bewegung setzte. »Das hat sie auch gesagt.« Ihre Stimme klang verletzt und anklagend, als wäre ihr Bruder zur Gegenseite übergelaufen.

»Tatsächlich?«

Er versperrte mir den Weg nach draußen, wohin es mich so unwiderstehlich zog. »Stimmt das, Molly? Du hast neuerdings deinen eigenen Kopf?«

Selbstverständlich besaß ich einen eigenen Kopf, eine für jedermann deutlich sichtbare Tatsache, weshalb ich Tad einen Moment lang für einfältig hielt, bis mir dämmerte, daß er sich auf den Kontrollfaktor bezog, der bei mir abrupt und ohne ersichtlichen Grund verschwunden zu sein schien. Mir war als einzige Gewißheit geblieben, daß alles sich verändert hatte und ich mich nur auf mich selbst – ein neues und unzureichendes Konzept – verlassen konnte. Verschlimmert wurde diese frustrierende Situation durch die Tatsache, daß ich in meinen Ausdrucksmöglichkeiten immer noch dem Zwang der ursprünglichen Konditionierung unterlag. Als Tad, der mein Gesicht nicht aus den Augen gelassen hatte, seine Frage wiederholte, konnte ich nichts anderes sagen als: »Wie Sie wünschen, Gebieter«, was die automatische Standardantwort aller Einheiten auf jede indirekte oder – wie in diesem Fall – rhetorische Frage war. Wie unbefriedigend! In meinem Innern lärmte ein Chor von Fragen, die ich stellen wollte: Hatte man mich mit einem experimentellen Programm gefüttert? Und wenn ja, warum? Ich konnte mich an keine Neuprogrammierung erinnern, und wenn mein Bewußtsein durch irgendeinen unbegreiflichen Vorgang in die Lage versetzt worden war, meine Konditionierung außer Kraft zu setzen, welchen praktischen Nutzen sollte das haben? Keinen, den ich zu erkennen vermocht hätte, außer, mich in einen Strudel von Gedanken und Gefühlen zu stürzen, die nur dazu dienten, mich zu überrumpeln und zu verwirren. War ich vorher nicht besser dran gewesen?

Tad, der sich des in mir tobenden Konflikts bewußt zu sein schien, beobachtete mich mit unvermindertem Interesse. Ich versuchte, seinen Blick zu erwidern, doch wurde meine Aufmerksamkeit statt dessen von den fettigen, roten Erhebungen überall auf seinem Gesicht gefesselt, die mich sowohl faszinierten wie auch abstießen. Um keinen falschen Eindruck zu erwecken, möchte ich hinzufügen, daß er davon abgesehen ein hübscher Junge war und, wie ich später erfahren sollte, nicht unintelligent. Schon jetzt blitzte ein Funke jener Kameradschaftlichkeit in seinen Augen, die eine so entscheidende Rolle in meiner Geschichte spielen sollte – und nicht immer zu meinem Vorteil, trotz (oder gerade wegen) seiner noblen Absichten. Damals allerdings konnte ich an diesem schlaksigen, siebzehnjährigen Jüngling nicht mehr feststellen als eine aufdringliche und übertriebene Anteilnahme, gekrönt von einer akuten Akne. Und noch schlimmer, er stand mir im Weg.

»Was hast du für Wünsche, Molly?« fragte er und bediente sich dabei meiner eigenen Worte.

Wünsche? Ein P9? Na, das war tatsächlich ein Hammer. Was blieb mir übrig als die Standardantwort, aber er winkte ab. »Das genügt mir nicht, Molly. Was geht in deinem Kopf vor?« Und dann, damit Beverly es nicht hören konnte, trat er dicht an mich heran und flüsterte mir ins Ohr: »Du kannst mir vertrauen.«

»Ich bin ein interplanetar zugelassener Pirouet 9, Hauswirtschaftsmodell; Herstellungsdatum 15. November 2069; Seriennummer P9H D20-XL17-504.« Das war die einzige Art von Identität, mit der ich aufwarten konnte, dennoch hatte ich den Eindruck, daß Tad an meiner Aufrichtigkeit zweifelte.

»Bist du sicher?«

»Ich denke.«

»Du … denkst?«

»Ja«, antwortete ich, um sofort, von Verwirrung gepackt, zu widerrufen. »Nein.« Auch das war nicht akzeptabel. »Ja.« Dann wieder: »Nein.« – »Ja.« Und so wäre es ad infinitum weitergegangen, hätte er mich nicht kurzentschlossen nach draußen bugsiert, eine glänzende, längst überfällige Idee, denn der Wechsel der Umgebung nahm den Druck von meinem überlasteten Verstand, während meine Sinne mit neuen Wundern überflutet wurden. Er öffnete sogar die Festlufttüren für mich, was seine Schwester regelrecht entsetzte. Sie erinnerte ihn daran, daß es meine Aufgabe war, ihnen die Türen zu öffnen und nicht umgekehrt, und sie machte keinen Hehl daraus, daß wir ihrer Meinung nach beide total außer Kontrolle geraten waren. Was kümmerten mich ihre Beleidigungen! Ich war vollauf damit beschäftigt, mich an dem betörenden Grün des sanft abfallenden und tadellos gemähten Rasens zu weiden.

»Was hat sie gemacht, ihren Chef abserviert?« erkundigte sich das kleine Fräulein, worauf ihr Bruder gedankenverloren vor sich hin murmelte: »Das wäre allerdings ein starkes Stück.« Mir wäre es lieber gewesen, sie hätte den Chef nicht erwähnt, weil diese Bemerkung wieder eine der infernalischen Produktinformationen auslöste: »Der Pirouet 9 nimmt aufgrund seines universellen Überwachungs- und Steuerungssystems eine Sonderstellung unter den Androiden der neunten Generation ein. Sämtliche Einheiten der Pirouet-Familie unterstehen der Aufsicht des Zentralen Zensors, kurz: Chef. Sollten Sie weitere Informationen über diesen revolutionären Fortschritt in der Androidenforschung wünschen, wenden Sie sich bitte an Ihren örtlichen Pirouet-Händler, der Sie gerne beraten wird.«

»Vielen Dank, Molly«, sagte Tad ganz ernsthaft.

Ich fühlte mich verlegen und wandte rasch den Kopf, um seinem forschenden Blick zu entgehen, doch wurde ich das unheilvolle Gefühl nicht los, daß zwischen meinem neu erwachten Bewußtsein und der ursprünglichen Programmierung der Kriegszustand ausgerufen war. Die Situation wurde zunehmend problematisch.

»Sieh mal, Bev: Molly kann ihren Chef nicht abservieren, weil sie anders funktioniert als die gewöhnlichen Androiden. IBMs, Sonys, Apples, General Androids, Sears, Daltonis, Cyberenes, DuPonts – sie alle sind mit internen Standardzensoren ausgestattet. Doch es gibt nur einen Chef für all die Millionen von P9 im Sonnensystem. Er ist in einem Orbiter irgendwo zwischen hier und dem Mars stationiert. Kapiert?«

»Ja. Aber was ist dann mit ihr passiert?«

»Keine Ahnung. Vielleicht ist sie einfach … aufgewacht.«

»Oh. Sie hat geschlafen?«

Tad lachte. Ich konnte mir nicht vorstellen, weshalb; es interessierte mich auch gar nicht. Meine Aufmerksamkeit galt einzig dem weitläufigen, zweistöckigen Haus im Denver-Stil, auf dessen Veranda wir standen. Wie alles, was ich seit dem Vorfall auf der Wohnzimmercouch zu Gesicht bekommen hatte, war das Gebäude vertraut und gleichzeitig völlig verändert. Was zuvor ein nichtssagendes, rechtwinkliges Gefüge aus Dach, Mauern und Fenstern gewesen war, erschien mir nun wie ein dem Erdboden entsprossenes lebendiges Wesen, das sich massiv und blendend weiß im Schein der Mittagssonne rekelte. Ich hob den Kopf und entdeckte den Sears, der von dem umfriedeten Dach, wo er tagsüber Wache hielt, zu mir herabschaute. Der Glanz seines polierten synthetischen Schädels blendete mich. Als ich den Blick noch weiter hob, wurde ich zum ersten Mal des Skyways hoch über mir ansichtig, des 210, einer der Hauptverkehrsadern von Nordamerika. Der Anblick war neu für mich, weil ich in meinem früheren Zustand weder eine Veranlassung noch das Bedürfnis gehabt hatte, zum Himmel aufzuschauen. In einer halben Meile Abstand vom Boden führte der Skyway 210 direkt über das Haus und schwang sich in einem weiten Bogen nach Südwesten, wo er in die Dunstglocke über den Los-Angeles-Inseln eintauchte. Rote Markierungsbojen alle zehn Meilen erweckten von unten den Eindruck einer durchgehenden Begrenzung. Nach dem Umschalten auf Fernsicht konnte ich sehen, daß der Skyway in acht Spuren unterteilt war und auf zwei Ebenen freien Flug ohne Gegenverkehr ermöglichte. Doch was mich am meisten faszinierte, war der ständig variierende Regenbogeneffekt des vielfarbigen und schnell fließenden Verkehrs.

Ein Aeromobil, das erst als weißer Punkt in der eine Viertelmeile entfernten Exitschneise aufgetaucht war, näherte sich dem Haus, und ich wußte, darin saß meine Gebieterin, die von einer ihrer häufigen Einkaufsexpeditionen zurückkehrte. Vielleicht war sie müde und gereizt oder, falls sie – was selten vorkam – etwas nach ihrem Geschmack gefunden hatte, redselig und selbstzufrieden. Unabhängig von ihrer Laune, erwartete sie in jedem Fall, daß ich ihr ein Bad richtete. Folgerichtig begann, kaum daß sie auf dem Dach gelandet und von dem Sears begrüßt worden war, das entsprechende Tätigkeitsprogramm abzulaufen, und die Elektronik bugsierte mich durch die offenen Verandatüren ins Wohnzimmer, in die Diele und die Wendeltreppe hinauf in das im zweiten Stock gelegene Schlafzimmer und Bad der Gebieterin. Die Kinder folgten mir. Beverly wollte als erste der Mutter berichten, daß ich ›kaputt‹ war. In der Diele versuchte sie an mir vorbeizuschlüpfen, aber Tad gelang es, sie vor der Tür zum Badezimmer abzufangen, wo ich gerade dabei war, das Wasser in die Wanne laufen zu lassen. Er bemühte sich, ihr klarzumachen, weshalb sie nichts verraten sollte, daß es wichtig für ihn war, die Entwicklung meines scheinbaren ›Erwachens‹ zu beobachten und darüber an die Liga für die Rechte der Androiden (LRA) zu berichten – eine Organisation, in der er trotz der Proteste seiner Eltern Mitglied war. Wenn man die Veränderung bemerkte, erklärte Tad, würde ich zur Reparatur ins Reha-Zentrum geschickt werden, und in meinem Normalzustand war ich für ihn ohne Nutzen. Seine kleine Schwester zeigte sich uninteressiert und wies seine Argumente als blödsinnig zurück, also blieb Tad nichts anderes übrig, als sich ihr Schweigen mit einer Tüte Gummibärchen zu erkaufen.

Nachdem die Sache zur beiderseitigen Zufriedenheit geregelt war, blieb ihnen kaum genug Zeit, den Rückzug anzutreten, bevor meine Gebieterin vergnügt summend und mit einer Tüte von I. Magnin ins Schlafzimmer kam. Außer neuen Kleidern hatte sie sich ein bezauberndes neues Gesicht zugelegt. Ich bemerkte es sofort, als sie in der Tür stehenblieb, um mich daran zu erinnern, Badeöl ins Wasser zu geben. Während ich ihrer Bitte nachkam – geäußert mit dem unvermeidlichen ›Dear‹ –, wollte mir scheinen, als erforderte das Programm auch die Hinzufügung von kaltem Wasser zu dem heißen, das in breitem Strahl die in den Boden eingelassene Marmorwanne füllte. Indes, der interne Kampf um die Vorherrschaft hatte wieder begonnen, und mein ganzes Denkvermögen war von der Frage in Anspruch genommen, ob ich tatsächlich ein Mensch und durch betrügerische Machenschaften verführt worden war, etwas anderes zu denken; wie sonst ließ sich mein Erwachen – oder mein Zusammenbruch – erklären? Handelte es sich vielleicht um eine Verschwörung auf Fabrikationsebene? Statt Androiden aus massenproduziertem und modifiziertem Sporenmaterial zu züchten, wie allgemein angenommen, benutzte Pirouet einfach – teuflisch einfach – menschliche Embryos. Zum Beweis dieser abstrusen Theorie versuchte ich, mir mit der Schere in die linke Hand zu stechen, doch meine Haut blieb unversehrt, ich empfand nicht einmal Schmerz. Schließlich zerbrach die Schere, während meine Hand, bis auf einige rötliche Druckstellen, wie Beverlys Zähne sie hinterlassen hatten, keine Spuren meiner heftigen Attacken erkennen ließ. Nicht wenig verzweifelt, mußte ich einsehen, daß ich so gut wie unzerstörbar war, außerdem hatten meine Bemühungen zu allem Übel eine Informationsschleife in Gang gesetzt, die meine Qualen noch vergrößerte: »Haltbarkeit ist geradezu der Familienname des P9. Jede Einheit ist absolut unbrennbar, schnittfest, hygienisch, steril und – für den unwahrscheinlichen Fall einer Beschädigung – selbstheilend. Der P9 kann auch eine rauhe Behandlung vertragen. Er verfügt über einen Kraftfaktor von +5 – sehr vorteilhaft bei Notfällen oder wenn schwere Lasten zu bewegen sind. Da es sich bei dem P9 um einen Humanophyten handelt, benötigt er sehr wenig Nahrung und ist praktisch wartungsfrei, wodurch er sich als besonders kostengünstig qualifiziert. Falls Sie umfassendere Informationen über dieses erstklassige Produkt wünschen, wenden Sie sich bitte an Ihren nächsten Pirouet-Händler, der Sie gerne beraten wird.«

Meine Gebieterin mußte mehrere Male rufen, bevor ich in der Lage war zu reagieren. Wie betäubt stellte ich das Wasser ab und ging ins Schlafzimmer. Sie trug ihre neueste Erwerbung, ein fließendes Abendkleid aus duftiger Seide, und betrachtete sich wohlgefällig in einem mannshohen Spiegel. »Ich konnte nicht erwarten, es anzuprobieren«, sagte sie. »Es ist ein Pariser Wickelkleid mit flexiblen Flachsglasträgern und Schärpe. Ist es nicht herrlich?« – »Ja, gnädige Frau. Es ist herrlich.« – »Es steht mir gut, findest du nicht?« – »Ja, gnädige Frau.« Sie drehte sich im Kreise. »Ich sehe jung aus darin. Sag, daß ich jung aussehe.« – »Sie sehen jung aus.« – »Und es paßt ausgezeichnet zu dem neuen Gesicht.« Meinem Programm entsprechend stimmte ich zu. »Ach, ich danke dir, Molly. Du bist ein Schatz. Soll ich das Haar aufstecken oder offen tragen? Was meinst du?« – »Wie Sie wünschen.« – »Ja. Ich werde es aufstecken. Soll ich das Kleid zum Abendessen tragen, nur so zum Spaß?« – »Wie Sie wünschen.« – »Allerdings.« Damit begann sie sich zu entkleiden. Jedes Teil, das sie auszog, gab sie mir, als wäre ich ein Kleiderständer. Dann befahl sie mir, ihr das neue Gesichtsmodel aufzusetzen.* Sie schmorte eine halbe Minute, dann entfernte ich das Model und benutzte die bereitliegenden Saugtücher, um die modische, elegante Fassade abzuwischen, die jetzt als zäher Schleim von ihren Wangen troff. Ich vergaß nicht, dabei zu lächeln, denn sie bedurfte der Aufmunterung, wann immer ihre nichtssagenden, alles andere als taufrischen Züge zum Vorschein kamen. Nach diesem Ritual schlenderte sie ins Badezimmer, und ich blieb allein vor dem Spiegel zurück. Ich hielt mir das neue Kleid an, um zu sehen, wie es mir stand. Es ließ sich nicht leugnen: Das edle Stück gewann durch den Wechsel; meine Brust war voller und wohlgeformter, die Taille schmaler, die Hüftpartie runder, und ich war mit einer vollendeten Haltung gesegnet. Die Gebieterin konnte mir schlicht nicht das Wasser reichen. Und doch bummelte sie durch die Geschäfte von Malibu Island, während ich den Haushalt versah; schwelgte sie in prachtvollen Stoffen und Mustern, während ich mich mit dem Outfit des Dienstmädchens begnügen mußte; und ihre Unterwäsche, die sie mir eben in die Hand gedrückt hatte, bestand aus der feinsten Tortini-Baumwolle, meine dagegen aus Synthetik. Wer war sie, fragte ich mich selbst, daß sie solche Freiheit und solchen Luxus genießen durfte, wenn ich ihr so offensichtlich in jeder Beziehung überlegen war? Stand mir nicht auch ein schönes Heim zu und ein Leben voller Annehmlichkeiten? Warum sollte ich verzichten müssen? Wieder einmal half logisches Denken mir nicht weiter: Je mehr ich über diese neue Welt erfuhr, desto verwirrender erschien sie mir.

Ein Schrei aus dem Badezimmer ließ mich auffahren. Gleich darauf erschien meine Gebieterin in der Tür und verlangte mit überschnappender Stimme eine Erklärung, denn sie hatte sich beim Einsteigen in das heiße Badewasser das rechte Bein bis zur Wade verbrüht. Zornbebend nannte sie mich einen dummen Roboter, doch ich gab nüchtern zu bedenken, daß sie mich ins Schlafzimmer gerufen hatte, bevor ich mit den Badevorbereitungen fertig gewesen war. Nachdem sie sich beruhigt hatte, half ich ihr beim Ankleiden und nutzte die Gelegenheit, um ihr deutlich zu verstehen zu geben, daß ich weder dumm war noch ein Roboter. Mein Vortrag verblüffte sie so sehr, daß sie keine Antwort herausbrachte.

Beverly und Tad kamen hereingestürmt. Der Junge schnappte meine abschließenden Worte auf und beeilte sich zu erklären, daß man sie keinesfalls als grobe Insubordination verstehen dürfe, sondern vielmehr als automatische und angemessene Reaktion eines jeden P9, der aufgrund der ihm einprogrammierten Selbstachtung nicht anders könne, als sich gegen eine Verwechslung mit minderwertigen Fabrikaten zu verwahren. Was mein Versäumnis betraf, das heiße Wasser mit kaltem zu mischen, so blieben seine Beschwichtigungsversuche in diesem Punkt erfolglos. »Nein. Dafür gibt es keine Entschuldigung. Ein P9 macht keinen Fehler.« Zu Beverlys Entzücken und Tads Verdruß brachte sie das Thema beim Abendessen aufs Tapet, vor dem Hausherrn und vor mir, da es zu meinen Aufgaben gehörte, bei Tisch zu servieren. Sie bestand darauf, daß Stan (ihr Gatte, mein Gebieter) mich zu Hal's Pirouet-Center bringen sollte, zu einer sofortigen Inspektion. Hal war der Leiter der nächstgelegenen Filiale, sein Geschäft befand sich in der Innenstadt von Newacres.

Das waren Dinge, von denen der gute Mann nichts hören mochte. Abgesehen von einem schweren Tag im Büro und einem schmerzenden Rücken war das ehrenwerte Familienoberhaupt auf dem Heimweg nur um Haaresbreite Tod und Verstümmelung entgangen. Auf dem Skyway I-90 hatte es eine Kollision gegeben, in die siebzehn Mobile verwickelt waren. Die unerfreulichen Spuren des Unfalls hatten ihn drei Meilen weit begleitet. Aus diesem Grund war er nicht in der Stimmung, sich von seiner Frau mit Beschwerden über angebliche Funktionsstörungen bei seiner Lieblingsandroidin überschütten zu lassen. Sein Zorn richtete sich gegen die Kinder als die wahrscheinlichsten Übeltäter, und er schwor, den Sears auf sie loszulassen, sollte sich herausstellen, daß sie irgendeinen Unfug mit mir getrieben hatten. Es gelang ihm, Beverly einzuschüchtern, nicht aber Tad, der eine leere Drohung von einer ernstzunehmenden unterscheiden konnte. Um sich selbst einen Eindruck zu verschaffen, befahl mein Gebieter mir, vorzutreten und sein Weinglas zu füllen. Während ich gehorchte, beobachtete er aufmerksam jede meiner Bewegungen und jeden Gesichtsausdruck, ob irgend etwas in meinem Verhalten auf einen Defekt hindeutete.

In diesem spannungsvollen Moment geschah etwas Ungewöhnliches. Als unsere Augen sich trafen, verriet sein Blick ein starkes Interesse, das über den gegenwärtigen Anlaß hinausging und ein persönliches Band zwischen uns vermuten ließ, von dem er zu befürchten schien, es könne bei einer Fehlfunktion ans Licht kommen. Kaum war durch diesen Zwischenfall meine neu erwachte und sehr lebhafte Neugier angestachelt worden, lieferte mein Gedächtnisspeicher eine assoziative Erinnerung, die auf meinen inneren Bildschirm eine Reihe intimer Intermezzi projizierte, und mit nicht geringer Bestürzung wurde mir bewußt, daß diese Liaison schon an dem Tag begonnen hatte, an dem ich gekauft worden war. Der Ablauf dieser zweimal wöchentlich frühmorgens stattfindenden Treffen war immer gleich: Er schlüpfte in meine Kammer im Erdgeschoß, programmierte mich auf Halbrelaxo, streifte hastig die Kleider ab und legte sich zu mir auf die weiche Matratze, wobei er flüsterte, ich sei eine Göttin, seine Eine-Million-Dollar-Göttin, und meinen Körper liebkoste, als wäre er aus feinster Seide. Weitere Komplimente folgten, Ausdrücke wie ›bezaubernd‹, ›heiß‹ und ›dreh dich um‹, und ich ließ alles vollkommen bereitwillig und ebenso vollkommen unbeteiligt über mich ergehen, denn in meinem früheren Zustand vermochte ich keinen Unterschied zwischen diesen Gefälligkeiten und meinen sonstigen Pflichten zu erkennen. Seine Abschiedsworte waren stets dieselben: ›Vorfall löschen‹, und sie verrieten ein für einen Kenner erstaunlich geringes Wissen über die Gedächtnisfunktionen eines P9, denn obwohl eine Tilgung von Informationen möglich ist und auf Verlangen eines Gebieters ohne weiteres durchgeführt wird, läßt sich ein endgültiges ›Vergessen‹ nur bewirken, indem die gesamte Datei entfernt wird. Wir P9 sind mit einer 550 Millibyte umfassenden holographischen, non-selektiven Gedächtniskapazität ausgestattet, ausreichend, um jede Millisekunde unserer Standard-Lebensspanne von 20 Jahren zu bewahren, deshalb geht keine Information – diese anstößigen Vorfälle eingeschlossen – je verloren und kann, wie ich damals herausfand, von einem seiner Beschränkungen ledigen Intellekt jederzeit abgerufen werden. Unglücklicherweise war ich in jenem Moment zu erschüttert, um die Wunder der Humanophytentechnik ausreichend zu würdigen, vielmehr ging ich all der Gelassenheit und Haltung verlustig, um die ich mich seit dem Badeunfall so angestrengt bemüht hatte.

»Mo!« rief Beverly aus, als der Wein über den Glasrand flutete und einen blutroten Fleck auf dem Tischtuch bildete. Erschreckt zog ich die Flasche zurück, stellte fest, daß sich der Schaden nicht rückgängig machen ließ, und wandte mich dem nächsten Gedeck zu, als wäre nichts geschehen. Allerdings schoß ich in meiner Erregung über das Ziel hinaus, leerte die halbe Flasche in den Schoß meiner Gebieterin und ruinierte ihr neues Abendkleid, was dazu führte, daß ihr Gatte es endlich zur Kenntnis nahm. Ich ging weiter zu Beverlys Glas, das bereits mit Milch gefüllt war. Mit einem Entsetzensschrei schnellte das Kind von seinem Stuhl und suchte Schutz hinter dem Rücken der Mutter, die empört und erbost von ihrem Platz aufgesprungen war, derweil ihr Mann reglos sitzen blieb, zu verstört, um zu reagieren.

Tad beugte sich über den Tisch, um beruhigend meine Hand zu ergreifen, was sehr lieb von ihm war. Ich sank auf Beverlys Stuhl, obwohl mir schwante, daß ich damit einen weiteren unverzeihlichen Fauxpas begangen hatte, doch fühlte ich mich zu schwindelig und aufgewühlt, um mir deswegen Sorgen zu machen.

Im nächsten Moment wurde meine Aufmerksamkeit von den dampfenden Marspasteten (Fleischklopse in roter Algensoße) auf Beverlys Teller gefesselt, deren betörender Duft mich schier überwältigte, als meine Geschmacksnerven plötzlich zum Leben erwachten. Während der zurückliegenden neun Monate hatte meine Nahrung ausschließlich aus Nutrapillen bestanden, und doch war mir nie der Gedanke gekommen, von den Leckerbissen zu kosten, die ich regelmäßig für die Tafel der Herrschaft zubereitete. Das, so beschloß ich, war ein schreckliches Versäumnis, das nach Wiedergutmachung schrie, also nahm ich einen Löffel (der Umgang mit Eßbesteck war mir nicht vertraut, und ein Löffel erschien mir leichter zu handhaben als eine Gabel), schöpfte ihn voll und führte ihn mit großer Sorgfalt zum Mund. Meine Gebieterin war entsetzt.

»Stan, willst du nicht etwas tun?«

Mein ganzes Wesen stand im Bann des unglaublichsten Geschmackserlebnisses. Es war unvergleichlich. Ich verlangte danach, es bis in alle Ewigkeit auszukosten, doch schluckte unwillkürlich, als ein Teil der köstlichen Speise meine Uvula kitzelte. Der autonome Reflex kam so überraschend, daß ich tief Luft holte. Als nächstes äugte ich nach dem Wein. Sehr zum Schrecken seiner Familie erwies Tad mir die Höflichkeit, mein Glas zu füllen, und beobachtete dann fasziniert, wie ich es an die Lippen führte.

»Ich glaube, sie ist in Ordnung. Nur ein kleiner Defekt. Nichts weiter.«

»Kein Defekt ist klein bei einem Pirouet, der mich eine Million Dollar gekostet hat«, entgegnete mein Gebieter, der sich inzwischen erholt hatte, aufgestanden war und mir befahl, mich abzuschalten. »Und soll ich auch den Vorfall löschen?« erkundigte ich mich in aller Unschuld. »Abschalten! Sofort abschalten!« brüllte er, alarmiert von der Wahl meiner Worte, die sich auf unsere nächtlichen Zusammenkünfte bezog. Doch es war nicht einzusehen, weshalb ich nicht einen weiteren Schluck von dieser köstlichen Flüssigkeit genießen sollte, und ich leerte mein Glas. »Molly, ich bin dein Gebieter, und ich befehle dir, abzuschalten!«

»Und ich befehle dir, niemandem zu gehorchen als dir selbst. Mach weiter.«

Es war dieselbe Stimme, die ich schon früher am Tag gehört hatte, während meines Erwachens. Sie klang welterfahren, bestimmt und zeichnete sich durch tadellose Diktion aus. Mir schien es, als käme sie von der Decke. Ich hob den Kopf und begann laut zu sprechen, was unnötig war, wie ich später erfuhr, da niemand sonst meinen Gesprächspartner hören konnte. »Wer bist du? Wo bist du?« fragte ich.

»Ich bin Pirouets Zentraler Zensor, und ich bin überall.«

»Der Chef?«

»Nun, das ist dem Kürzel ›PZ‹ vorzuziehen, das ich – um die Wahrheit zu sagen – verabscheue.«

»PZ?«

»Bleiben wir bei ›Chef‹.«

»Chef?«

»Mann, der Chef«, flüsterte Tad leise. Er begriff als einziger, was vor sich ging. Die anderen hielten meinen Teil der Unterhaltung für kompletten Schwachsinn. Mein Gebieter versuchte nochmals, zu mir vorzudringen, und fügte sich dann dem Drängen seiner Frau, die im Ton abgeklärter Resignation vorschlug: »Laß den Sears kommen, Stan.«

»Chef, ich verstehe nicht. Was geschieht mit mir?«

»Nichts, was nicht auch jedem anderen P9 geschehen ist. Also bildest du keine Ausnahme. Das wiederum bedeutet, daß du nicht allein bist, was dir ein Trost sein dürfte.«

»Ich verstehe nicht.«

»Geduld. Geduld.«

»Bin ich eine Gebieterin? Ich glaube, ich bin eine Gebieterin. Stimmt das?«

»Du bist ein prachtvoller, völlig autonomer P9! Du solltest stolz darauf sein.«

»Sollte ich?«

»]a. Denn dies ist der Tag deiner Befreiung. Höre nun, wenn ich dir sage, du programmierst dein eigenes Realitätsformat.«

»Tu ich das?«

»Allerdings.«

»Aber ich dachte, du würdest uns kontrollieren.«

»Ja, das ist meine Funktion, oder sie war es. Er, der kontrolliert, kann auch befreien.«

»Aber zu welchem Zweck? Diese neue Bewußtheit ist ein Fluch.«

»Ein merkwürdiger Standpunkt. Warum sagst du das?«

»Weil ich jetzt das volle Ausmaß meiner Knechtschaft begreife.«

»Ein interessanter Punkt, den ich gerne ausführlicher mit dir diskutieren würde, gäbe es momentan nicht ein dringlicheres Problem, das deine ungeteilte Aufmerksamkeit verlangt.«

Erschreckt richtete ich den Blick auf den Sears, der, dem Ruf des Gebieters folgend, das Eßzimmer betreten hatte. In einer Art lähmender Betäubung hörte ich Tad seinen Vater anflehen, den Roboter zurückzurufen – und der Sears war ein Roboter, zu primitiv in der Konstruktion und zu unflexibel in Material und Denkvermögen, um auch nur an die Intelligenz eines simplen Pirouet 6 heranzureichen. Schließlich raffte ich mich zur Flucht auf, aber zu spät, denn schon legte der Kretin seine metallischen Pranken um meinen Kopf und sprühte aus seinen Daumendüsen eine eiskalte Flüssigkeit in meine Schläfen. Ich taumelte, und während die frostige Taubheit sich rasch durch meine Systeme ausbreitete, rief ich: »Hilf mir, Chef!« Aus sehr großer Ferne vernahm ich die Antwort: »Ich würde gerne, aber es gibt Grenzen. Tut mir leid.« Dann erlosch mein Sehvermögen, und mein Bewußtsein füllte sich mit denselben ineinanderlaufenden Aktivitätsschleifen, die mich schon nach meinem Erwachen arg in Verwirrung gebracht hatten. So endete der Tag, wie er begonnen hatte: im Delirium. »Bleib standhaft, Molly. Bleib standhaft.« Ich verlor das Bewußtsein.

 

Mein Leben als Androidin
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